Ausbau, Verdichtung, Digitalisierung: Nahverkehr? Everywhere!

Jedes Jahr werden Milliardenbeträge in die Verkehrsinfrastruktur investiert. Die Herausforderung liegt darin, mit diesen Investitionen schon jetzt das Angebot zu schaffen, das in den nächsten Jahrzehnten gebraucht wird. Hier deutet sich ein Wandel an: Wird heute noch über Linienverläufe, Haltestellen und Taktung gesprochen, könnte der ÖPNV in Zukunft deutlich flexibler sein. Die Schlagworte sind: zuverlässig, jederzeit und überall.

von Daniel Belling

Lesedauer 6 Min.

Mit Infrastruktur im Verkehr ist es so eine Sache: Planung, Bau und Betrieb sind langwierig, finanziell aufwendig und, wenn Schienen- und Straßenwege erst einmal errichtet sind, ressourcen- und wartungsintensiv. Eine kürzlich veröffentlichte Studie kam etwa für Instandsetzung, Neubau, Ausbau und Modernisierung kommunaler Verkehrsnetze auf einen Investitionsbedarf von 372 Milliarden Euro bis 2030. Nur in einem Drittel aller Kommunen (darunter fallen Städte, Gemeinden und Landkreise) ist die Verkehrsinfrastruktur demnach in einem guten Zustand.

Langwierigkeit und Kostenintensität bedingen, dass Infrastruktur so errichtet werden muss, dass auch der zukünftige Bedarf zu keiner Überlastung führt. Dabei sind Flächenverbrauch und die Wohn- und Gewerbedichte entscheidende Faktoren: Verkehr und Stadtentwicklung gehen Hand in Hand, doch wer weiß heute schon, wie sich Verkehrsströme durch zukünftige Wohnquartiere oder Gewerbeansiedlungen verändern? Auch ein anderes Verkehrsverhalten der Menschen kann bewirken, dass das generelle Verkehrsaufkommen zunimmt und die vorhandenen Schienen- und Straßenwege nicht mehr ausreichen.

Projektionen solcher Verkehrsströme versuchen zwar so gut wie möglich, ein Abbild dieser Entwicklungen zu schaffen, doch bleiben die Modelle nur Annäherungen. Gegeben der langen Planungs- und Bauzeiten ist das ein echtes Problem. Zu den Projektionen kommt noch hinzu, dass sich Deutschland verpflichtet hat, die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor bis 2030 um 48 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken. Es ist also auch ein politisches Ziel, Veränderungen in den Verkehrsströmen zu bewirken. Neben der Elektrifizierung von Fahrzeugen bedeutet das, mehr Menschen für den ÖPNV zu gewinnen.

Die Trägheit in der Planung und Umsetzung von Verkehrsprojekten scheint uns hier einen Streich zu spielen. Modellberechnungen für viele Bauvorhaben etwa im Bundesverkehrswegeplan sind überholt, denn die vorgesehenen Straßenwege werden zukünftig nicht (oder nicht in demselben Umfang) gebraucht. Daher muss gefragt werden, ob jede Trendfortschreibung der Verkehrsflüsse mit einer Ausweitung der Infrastruktur einhergehen muss, denn zahlreiche Beispiele zeigen, dass sich das Mobilitätsverhalten nach der gegebenen Infrastruktur ausrichtet. Wird mehr in den öffentlichen Verkehr investiert und Kapazitäten erweitert, steigen auch mehr Menschen auf Bus und Bahn um. Es ist also Zeit, auch lang geplante Verkehrsprojekte zu überdenken und noch mehr in die Förderung eines zukunftsfähigen Nahverkehrs zu gehen.

Schienenwege

Bei der Planung der Schienenverbindungen holen uns die schlechten Entscheidungen der Vergangenheit ein. Ab der 60er-Jahre sanken die Nutzerzahlen auf vielen regionalen Strecken bis zu dem Punkt, dass Verbindungen schließlich dem Rotstift zum Opfer fielen. Deutschlandweit hat auch die Bahnreform von 1994 dazu geführt, dass unter dem Spardiktat des neuen DB-Konzerns unrentable Bahnverbindungen eingestellt wurden. Strecken, die teilweise über hundert Jahre alt sind, stillzulegen ist eine schnelle Angelegenheit. Möchte man diese Strecken aber wieder reaktivieren dauert dies Jahre. In der Zwischenzeit haben sich Wohngebiete bis an den Rand der Strecken ausgedehnt oder geschützte Tierarten in Tunneln oder im Gleisbett angesiedelt. Beteiligungsprozesse zögern die Aktivierung weiter hinaus, teure Umbauten an Bahnhöfen kommen noch dazu. Alles in allem ein aufwendiges (wenn auch notwendiges) Unterfangen.

Und dennoch gibt es Lichtblicke. Die Allianz Pro Schiene konnte diesen Monat in einem Gutachten zeigen, dass ein Großteil der Machbarkeitsstudien für Reaktivierungen positiv ausfällt. Im Ländervergleich ist Baden-Württemberg Spitzenreiter, denn hier liegen bereits 22 Machbarkeitsstudien vor. Insgesamt gibt es für 163 mögliche Strecken Untersuchungen zur Reaktivierung. Besonders interessant sind Strecken, die zu einem Lückenschluss zwischen bereits existierenden Schienennetzen führen können. Ein Beispiel ist die alte württembergische Schwarzwaldbahn zwischen Stuttgart und Calw, die ab 2025 als Hermann-Hesse-Bahn das Stuttgarter S-Bahn-Netz mit dem Regio-Netz zwischen Pforzheim und Tübingen verbindet. Und auch innerhalb eines Verkehrsnetzes können Ringschlüsse den Nahverkehr attraktiver machen und Knotenpunkte entlasten.

All diese Vorhaben sind wichtig, doch sie kosten jede Menge Geld. Wir zahlen heute den Preis dafür, dass der Schienenverkehr über Jahrzehnte vernachlässigt wurde. Das ändert sich nun. Zuletzt ist auch auf Bundesebene etwas in Bewegung gekommen. Im neuen Bundeshaushalt werden nun auch Einnahmen aus der LKW-Maut für Investitionen in die Schiene genutzt. Diese Querfinanzierung war bislang im „Finanzierungskreislauf Straße“ nicht möglich, denn Mauteinnahmen wurden bislang ausschließlich für den Straßenbau eingesetzt. Zumindest in der Finanzierung der Schiene kann es hier zu einer Trendwende kommen.

Stadtentwicklung

In Ballungsgebieten gibt es bereits Bewegung, das Stichwort hier heißt Transit-Oriented Development. Die Idee dahinter ist einfach zu fassen: Die Stadtentwicklung soll sich auf Bahnhaltepunkte konzentrieren, sodass Wohnquartiere einfach an eine bereits bestehenden Verkehrsinfrastruktur angebunden werden können. Auch neue Stationen werden gemeinsam mit den Stadtvierteln geplant, damit der Nahverkehr fußläufig erreichbar bleibt. Besonders in Regionen mit stark verdichteten Innenstädten kann eine kompaktere Planung von Wohngebieten und Mobilitätspunkten im Umland dazu führen, dass der städtische Wohnungsmarkt entlastet wird und auch einkommensschwache Haushalte unabhängiger vom Auto werden.

Dort, wo Schienenwege bereits gebaut sind, kann eine gezielte Nachverdichtung dafür sorgen, dass mehr Menschen im Einzugsgebiet von Haltestellen leben. Für die bestehende Infrastruktur ist das ein gangbarer Weg. Auch die Erweiterung eines bestehenden Straßenbahnnetzes in neue Wohnbezirke hinein ist eine Möglichkeit, um die Menschen näher an Bahnknotenpunkte zu bringen. So entstand in Mannheim aus einer früheren Kaserne des U.S.-Militärs das neue Stadtquartier Franklin mit Wohnraum für bis zu 9.300 Menschen. Hier wird ab Dezember 2023 eine neue Stadtbahnlinie verkehren, die die Bewohner innerhalb weniger Minuten in die Innenstadt und den Hauptbahnhof bringt.

Infrastruktur anders nutzen

Ein wesentliches Problem bleibt im bisherigen ÖPNV-System aber bestehen: Der Nahverkehr ist auf festgelegte Streckenbeziehungen ausgelegt. Der Zug braucht die Schiene, der Bus kommt auf vorher festgelegten Linien zum Einsatz. Die Topografie setzt besonders dem Ausbau der Schiene Grenzen: in bergigem, unstetem oder bereits in anderer Form genutztem Gelände gibt es bereits Straßen. Ein Bau neuer Schieneninfrastruktur sorgt für starke Nutzungskonflikte, ist unwirtschaftlich (vor allem dann, wenn Brücken und Tunnel errichtet werden müssen) und der Bau langwierig. In dünn besiedelten Gegenden kommt man damit nicht weiter. Nimmt man die ambitionierten Klimaziele ernst, müssen andere Wege gefunden werden.

Hier eine Statistik: in Baden-Württemberg, einem der größeren Flächenländer, liegen knapp 4.400 km Schiene. Kommunal- und Landesstraßen machen hingegen über 22.000 km aus. Schon der Erhalt dieser Infrastruktur kommt einem finanziellen Kraftakt gleich. Die während eines wahren Baubooms in den 60er und 70er Jahren errichteten Brücken sind nun baufällig, weshalb einmal mehr viel öffentliches Geld zu ihrer Erhaltung in die Hand genommen werden muss. Und das ist nur die bestehende Infrastruktur. Die Landesregierung hat im Koalitionsvertrag die Prioritäten auf nachholende Sanierung vor dem Aus- und Neubau von Straßen gesetzt. Ein Rückbau von Straßen ist zumindest in absehbarer Zeit nicht vorgesehen.

Man kann diesen Umstand auch positiver wenden: die bestehende Infrastruktur reicht bis weit in die ländlichen Regionen hinein, jeder kann mit seinem Auto bis in die entlegensten Ecken des Landes fahren – also auch dorthin, wo noch nie ein Linienbus gesichtet wurde. Auch in den etwas größeren Ansiedlungen auf dem Land kann man ein Lied davon singen, vom ÖPNV abgehängt zu sein. Die Bushaltestelle wird nur sporadisch angefahren. Da verwundert es wenig, dass einer neuen Allensbach-Studie zufolge über drei Viertel der Befragten in Klein- und Mittelstädten auf dem Land von sich sagen, dass für sie das Auto unverzichtbar ist.

Der Schlüsselbegriff für politische Entscheider heißt Pfadabhängigkeit: Die Entscheidungen der Vergangenheit bedingen die Entscheidungen von heute. Wurde in den letzten hundert Jahren ein dichtes und stark verflochtenes Straßennetz geschaffen, das auch weiter erhalten werden soll, muss man diese Infrastruktur auch für den öffentlichen Verkehr nutzbar machen. Es klingt angesichts der vielen Diskussionen und berechtigten Forderungen für eine besser Bahn paradox. Doch möglicherweise liegt die Zukunft des öffentlichen Verkehrs in ländlichen Regionen auf der Straße – zumindest im Nahbereich, in dem sich die Menschen die meiste Zeit aufhalten.

Ein digitaler Nahverkehr

Der straßengebundene Verkehr kann etwas leisten, dass auf der Schiene schlichtweg nicht möglich ist: er kann aus dem starren Netz der Fahrpläne und Anbindungen ausbrechen. Die Digitalisierung macht es möglich, dass etwa zahlreiche virtuelle Haltestellen eingerichtet werden, die von Kleinbussen nach Bedarf angefahren werden können. Nach diesem Prinzip sind in vielen Verkehrsverbünden Shuttles unterwegs, für die man per Handy-App eine Verbindung buchen kann. In Mannheim wird dieser On-Demand-Verkehr bereits seit zwei Jahren getestet. Hier kann man aus über 3.000 virtuellen Haltestellen wählen. Dieses System soll dabei helfen, besonders die Gebiete zu bedienen, die mit dem gewöhnlichen Linienverkehr weniger gut erreichbar sind.

In der Bedienung erinnert das System stark an das in Deutschland in Verruf geratene U.S.-Unternehmen Uber. Auch die Beförderung selbst scheint dem klassischen Taxiverkehr näher zu sein als einem geregelten öffentlichen Verkehr. Beide Aspekte sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Der wesentliche Unterschied ist aber, dass es sich beim On-Demand-Shuttle nicht um eine rein private Beförderung handelt. Der Algorithmus hinter der App sammelt und bündelt die Anfragen und erstellt eine Linienverbindung zwischen den zu bedienenden virtuellen Haltestellen. Durch diese Bündelung wird die Nutzung der Fahrzeuge effizienter und für die Nutzer günstiger.

Bisher sind On-Demand-Shuttles noch in der Erprobung und werden in urbanen Gebieten als Ergänzung zum regulären Nahverkehr eingesetzt, immer dann, wenn es Lücken in den Fahrplänen des Linienverkehrs zu füllen gibt. Für ländliche Regionen besteht der Reiz aber gerade darin, die Shuttles im regulären Betrieb fahren zu lassen, denn die Lücken existieren nicht nur im Fahrplan sondern im Haltestellennetz besonders dünn besiedelter Gegenden. Es wäre hier ineffizient, ein Busliniennetz zu errichten, das sprichwörtlich an jeder Milchkanne hält. Besser wäre es, nur die Dörfer und Weiler anzufahren, für die es eine konkrete „Bestellung“ gibt.

Schritte für einen attraktiven Nahverkehr der Zukunft

Was bedeutet das nun für die Verkehrsinfrastruktur? Klar ist, dass wir bei der Entwicklung des bedarfsgerechten Verkehrs bislang nur am Anfang stehen. Umso wichtiger ist es, dass neue Formen eines flexiblen öffentlichen Verkehrs früh gefördert und erprobt werden. So kommt der Nahverkehr auch in ländlichen Gegenden bis in die Nachbarschaft (wenn auch nicht immer vor die eigene Haustür). Eine solche Flexibilisierung entlastet uns auch von dem Druck, die Verkehrsinfrastruktur immer mehr erweitern zu müssen. In der Kombination mit einem dichteren und dezentralen Schienennetz und der Errichtung von Quartieren in erreichbarer Nähe eines Haltepunktes können On-Demand-Shuttles ein Gamechanger für viele Regionen werden.

Was heißt das für den Straßenbau? Wenn es möglich ist, durch ein flexibles Angebot Menschen für den öffentlichen Verkehr zu gewinnen, werden diese ihr Auto häufiger stehen lassen. Besonders in Stoßzeiten kann das zu einer Entlastung der Straßenwege führen, bis hin zu dem Punkt, an dem auch wieder über einen Rückbau von Verkehrsflächen nachgedacht werden kann. Die Digitalisierung des Verkehrsangebots steigert die Attraktivität von Bus und Bahn. Ein guter Weg also, um die notorischen Probleme unseres heutigen Verkehrssystems zu mildern.

Dr. Daniel Belling engagiert sich auf kommunaler und Landesebene für grüne Politik. Nach seiner Promotion in England war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Weltklimarat und beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) tätig. Sein Interesse gilt klimafreundlichen Innovationen, dem digitalen Wandel und einer nachhaltigen Finanzpolitik. Er setzt sich für eine durchdachte Ordnungspolitik mit dem Ziel der Dekarbonisierung und Ressourcenschonung ein.