Der politische Diskurs ist zunehmend durch strategische Manöver und kurzfristige Geländegewinne geprägt, und das nicht erst, seitdem die heiße Wahlkampfphase angebrochen ist. Sachliche Auseinandersetzungen treten in den Hintergrund, während die Kompromissfähigkeit der Mitte herausgefordert wird. Durch diese Entwicklung korrodiert das demokratische Gefüge. Es könnte das Vertrauen in die politische Kultur langfristig beeinträchtigen.
Ein Kommentar von Daniel Belling und Valentin Gauß
⏱︎ 5 Min.Wer schon einmal die Kuppel des Reichstagsgebäudes besucht hat, wird die Perspektive kennen: man schaut aus der Höhe wahlweise auf die symmetrischen Reihen an blauen Stühlen oder dem Gewusel an Abgeordneten an Plenartagen im Bundestag, der Herzkammer der deutschen Demokratie. „Hinein in das Plenum und hinab zu den Parlamentariern“, wie Sir Norman Foster, der Architekt dieser eleganten Glasstruktur, diese Perspektive beschreibt. Doch was letzte Woche dort unten vor sich ging, dürfte das herunter blickende Publikum irritiert haben.
In der letzten Januarwoche 2025 spitzte sich die politische Auseinandersetzung im Bundestag in selten gesehener Weise zu. Der Schlagabtausch zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien erreichte seinen Höhepunkt, als die Union zwei Anträge und einen Gesetzesentwurf zur Verschärfung der Asylpolitik einbrachte. Dieser sah unter anderem eine Ausweitung von Grenzkontrollen, schnellere Abschiebungen und härtere Bedingungen für den Bezug von Sozialleistungen vor.
Die Abstimmung offenbarte eine Verschiebung in den politischen Fronten: Der Antrag wurde mit den Stimmen der Union, FDP, AfD sowie Teilen des BSW angenommen. Es war die bewusste Inkaufnahme der Zustimmung einer rechtsextremen Partei, um zu einer parlamentarischen Mehrheit zu kommen – ein Novum in der 70-jährigen Geschichte der Bundesrepublik, das die politische Landschaft nachhaltig erschüttert. Die ohnehin schon lädierte politische Mitte wurde weiter geschwächt, die Folgen dieser Abstimmung auf die demokratische Kultur in Deutschland sind noch nicht absehbar.
Bei genauerer Betrachtung fügt sich dieses Verhalten in ein für die politische Kultur beunruhigendes Muster ein, das seit dem Bruch der Ampelkoalition im vergangenen Herbst in massiver Form zutage tritt. Bekannt sind die Spielchen des Wer-mit-Wem vor jeder Wahl, das die Medien nur allzu gerne bedienen, in der Hoffnung, als erste eine Koalitionsaussage abdrucken zu können. Die “Ausschließeritis” hingegen nimmt mittlerweile seltsame Züge an. Der störrischen Festlegung des bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chefs Söder, nicht mit den Grünen koalieren zu wollen, möchte nun auch die FDP per Parteitagsbeschluss folgen – und damit eine ehemals liberale Partei, die bis dato offen für Mehrheiten in der demokratischen Mitte war.
Taktische Eskalation
Wurden in der Vergangenheit noch aufgrund inhaltlicher Differenzen Linien in den Sand gezeichnet, mit dem Ziel, ein weitreichendes Entgegenkommen möglicher Koalitionspartner zu erreichen, wird die sachliche Auseinandersetzung nun zu einem Vorwand. Es geht gerade nicht mehr darum, im Wahlkampf mit klarer Haltung zu punkten, um nach der Wahl schließlich in Sondierungsrunden und Koalitionsverhandlungen Gemeinsamkeiten auszuloten. Was wir nun erleben ist das bewusste Verweigern der Zusammenarbeit mit anderen demokratischen Mitbewerbern.
Dabei wird eine Eskalation bewusst provoziert, um einen Bruch zu legitimieren oder die eigene Position als unverrückbar darzustellen. Es ist eine taktische Eskalation, die dazu dient, eine Zusammenarbeit zu erschweren oder zu verhindern und eine bestehende Allianz kontrolliert zu destabilisieren. Eine bewusste Verschärfung eines Konflikts durch eine gezielte Setzung von unüberbrückbaren Positionen, um strategische Vorteile zu erzielen, mag zwar das eigene Profil schärfen, drängt inhaltliche Debatten aber an den Rand. Sie hat uns zu dem Punkt gebracht, an dem wir heute stehen.
Der erste Akt ist bekannt: der gewollte Bruch der FDP mit der Ampelregierung. Die Ampel war eine Koalition aus Frust, doch gab es auch Züge staatspolitischer Verantwortung. Offen ausgetragene Konflikte und das öffentliche Einziehen roter Linien gab es in der Koalition schon länger, doch dieses Ende hatte nun niemand erwartet. Das interne “D-Day”-Papier spiegelt diese taktische Eskalation in Reinform wider. Die Partei hat sich nicht nur in der militarisierten Sprache verhoben. Das Papier zeugt davon, wie durch eine öffentlich zur Schau getragene Unvereinbarkeit in den Positionen der FDP mit denen der SPD und der Grünen eine “offene Feldschlacht” herbeigeführt werden soll. Wie ZEIT Online berichtete, wurde dazu mit einem zugespitzten Konzeptpapier zur Wirtschaftswende die Koalition gezielt sabotiert:
“Es ist die maximale Provokation für SPD und Grüne. Die FDP fordert darin die Aufweichung der Klimaziele, die Abschaffung des Solidaritätszuschlags, eine Senkung der Unternehmenssteuern und einen Stopp aller weiteren Regulierungen, darunter das Tariftreue-Gesetz, ein Prestigeprojekt der SPD.” (ZEIT Online, 15.11.24)
Das Ergebnis ist erwünscht, so ließe sich argumentieren, dass die anderen Parteien keinerlei Bereitschaft des Entgegenkommens gezeigt haben. Indem man ein vergiftetes Angebot macht, kann man seine eigene Position aufwerten und einen radikalen Kurswechsel als einzig vernünftige Reaktion zur Krisenbewältigung darstellen. Im Wirtschaftspapier heißt es auch folglich, es gelte, “Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden.” Mit dieser Haltung wurde die Kompromissbereitschaft durch ein Schwarzer-Peter-Spiel ersetzt.
Nun also der zweite Akt dieses unwürdigen Spiels. In ähnlicher Weise agierte nun Friedrich Merz, indem er mit seinem Fünf-Punkte-Plan und dem Gesetzentwurf zur Migrationsbegrenzung Initiativen zur Abstimmung stellte, von denen er wusste, dass sie nicht annähernd auf die Zustimmung der Minderheitsregierung aus SPD und Grünen treffen. Wieder eine bewusste Provokation und ein Spiel mit dem Feuer: entweder sollen sich die beiden Parteien uneingeschränkt zu Merz’ Vorschlägen bekennen, oder man nimmt Mehrheiten in Kauf, die auf der Zustimmung der AfD basieren. Der Rest ist bekannt, der Tabubruch eingetreten. Wenn auch die Abstimmung zum Migrationsbegrenzungsgesetz eine Mehrheit knapp verfehlte, ist der Schaden angerichtet.
Diese Abstimmungen markieren einen Wendepunkt, denn sie säen weiter Misstrauen zwischen den demokratischen Kräften der Mitte. Es gibt viele Punkte, in denen die Parteien aufeinander zugehen können, dazu muss man aber bereit sein, Kompromisse zu schmieden. Taktische Eskalation ist jedoch das genaue Gegenteil von Kompromissbereitschaft. Es ist ein Manöver, bei dem es nur vordergründig um eine inhaltliche Auseinandersetzung geht. Das eigentliche Ziel ist es, den Ausstieg aus den Verhandlungen zu rechtfertigen und sich als Wahrer der eigenen Prinzipien und Werte zu stilisieren.
Der Konsens der Mitte wackelt bedenklich
Tragisch ist es, weil es gerade nicht mehr darum geht, für politische und gesellschaftliche Mehrheiten zu streiten und gute Gesetze auf den Weg zu bringen. Die aktive Zivilgesellschaft, darunter die Kirchen und zahlreiche Organisationen und Vereine, die sich für das Gemeinwesen stark machen, ist ein wichtiges Element der liberalen Demokratie. Viele Ehrenamtliche sind in höchstem Maße irritiert, wenn ihr redlicher Einsatz für die Demokratie durch politisches Taktieren und dem Akzeptieren von Tabubrüchen bestraft wird.
Gefährlich ist es deshalb, weil es Vertrauen zwischen demokratischen Parteien verspielt und die extremen Ränder stärkt. Gerade bei so emotionalen Themen wie der Migration nützt dieses Vabanquespiel besonders der rechtsextremen AfD. Dem ohnehin schon schwindenden Vertrauen in die Politik erweisen diese Manöver einen Bärendienst.
Das alte Bonmot, dass in Deutschland Wahlen in der Mitte gewonnen werden, gilt jedoch immer noch. Der Kompromiss aus der Mitte des politischen Raumes heraus war und ist ein Garant für die Stabilität der Werteordnung und des politischen Gefüges der Bundesrepublik. Es bildet den gesellschaftlichen Kitt ab, der trotz der gefühlten Polarisierung nach wie vor stark ist. Wie der Soziologe Steffen Mau in seiner Triggerpunkte-Studie aus dem letzten Jahr anmerkt, spielt sich “der meiste Streit (…) nicht zwischen unversöhnlichen Lagern mit unvereinbaren Zielvorstellungen ab, sondern es geht um die vielen ‘Ja-aber’, die mit bestimmten Projekten verbunden werden.” (S.382) Er bescheinigt der Gegenwartsgesellschaft ein gemeinsames Problemverständnis, denn
“auch bei besonders hitzigen Auseinandersetzungen handelt es sich bei näherer Betrachtung oft um Verhandlungen über die Bedingungen eines breit geteilten impliziten Gesellschaftsvertrags – und nicht um Fundamentaloppositionen, anhand derer sich Menschen in unversöhnliche Lager sortieren.” (ebd.)
Bei aller Verschiedenheit in den Positionen und der leidenschaftlich geführten Auseinandersetzung darf die Politik nicht hinter diesen breiten gesellschaftlich getragenen Konsens zurückfallen. Taktische Manöver, die die Bündnisfähigkeit der demokratischen Parteien gefährden – das Liebäugeln mit populistischen und menschenverachtenden Positionen, die unsägliche ‘Ausschließeritis’ und ihr schamloser Zwillingsbruder der taktischen Eskalation nagen am Konsens der Mitte.
Taktische Eskalation ist Verantwortungslosigkeit als Strategie. Das Ziel ist nicht der Kompromiss, sondern die Polarisierung. Mit einer zerklüfteten politischen Landschaft und Parteien, die sich als “Polarisierungsunternehmer” (Mau) gerieren, ist aber kein Staat zu machen.
Das leichtfertige Aufs-Spiel-setzen von Vertrauen käme einer Aufkündigung des impliziten Gesellschaftsvertrags gleich. Wo das hinführt, können wir seit einiger Zeit in anderen westlichen Staaten erleben. Das sollte uns, auch vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte, Warnung genug sein. Noch ist es nicht zu spät, die Gräben zu überbrücken und verlorenes Vertrauen wieder zu gewinnen. Die Volksvertreter im Bundestag müssen sich stets bewusst sein, dass ihr Verhalten in die Gesellschaft hinein hallt. Sie stehen unter dem Eindruck des kritischen Blicks der Bürger durch die gläserne Kuppel.